Welches Wissen von wem?
Es sind vielleicht die beiden wichtigsten Fragen, die ich mir zur Künstlerischen Forschung stelle: Welche Art von Wissen entsteht durch sie und in wem entsteht dieses Wissen? Etwas weniger zentral, aber von ihnen abhängig, ist: Welche Rolle kann die Dissertationsschrift dann spielen?
Diese Frage leitet sich ab aus der Definition, die ich für die Thematik zu geben versuche: Künstlerische Forschung befasst sich mit der Problematik, dass durch Kunst eine Art Wissen generiert wird, dem die herkömmlichen Kulturwissenschaften nicht gerecht werden können. Dass es ein solches Wissen gibt, ist die Lebensversicherung der Künstlerischen Forschung – wenn die herkömmlichen Kulturwissenschaften diesem Wissen gerecht werden könnten, dann gäbe es keinen Grund, eine neue Art der Forschung auszurufen, dann könnten die künstlerisch Forschenden einfach neben der Kunstproduktion auch Kulturwissenschaften betreiben. (Es mag eingewendet werden, dass genau diese Überschneidung die Bedeutung des Begriffs ‘Künstlerische Forschung’ ist. Dies ist eine wenig emphatische Bedeutung, die vielleicht genau aus diesem Grund realistischer, wissenschaftlicher und für Kunstschaffende weniger interessant ist.)
Ich habe bereits vor zwei Jahren darüber nachgedacht und drei mögliche Träger*innen des Wissens ausgemacht: Die Kunstschaffenden selbst, die im Ausführen ihrer Kunst, oder auch im Nachdenken darüber, neue Dinge in Erfahrung bringen, sind die naheliegendste Antwort. Die Erfahrung oder das Nachdenken des Publikums ist meine zweite Antwort; hier ist es bedeutend schwieriger, genau zu bestimmen, welchen Inhalt das generierte Wissen hat. Noch schwieriger ist es bei der dritten Antwort: die ‘Kultur’ im Allgemeinen. Künstlerische Forschung trägt dazu bei, die menschliche Kultur zu bereichern. Hier stellt sich noch nachdrücklicher die Frage, ob hier nicht die Kulturwissenschaften besser ausgerüstet wären, die Forschungsergebnisse zu beschreiben und beurteilen. Die Wissensgenerierung rückt von den Kunstschaffenden weg, die epistemische Position der Kunstschaffenden verliert ihre Privilegien.
Wahrscheinlich ist es alles drei, und es ist nicht sinnvoll, sich auf eine Antwort im Vorfeld zu versteifen.
Die Frage nach der Art des Wissens ist bereits in sich problematisch, denn der Begriff ‘Wissen’ ist möglicherweise spezifischer als die möglichen Ergebnisse einer Künstlerischen Forschung. Stattdessen wären auch ‘Einsicht’, ‘Erkenntnis’ ‘Forschungsergebnisse’, ‘Wirkung’ und weitere möglich. Ich verwende ‘Wissen’, weil es sich anbietet als die Folge von Forschung und gleichzeitig durch sein häufiges Vorkommen in der Umgangssprache ‘an den Rändern verschwimmt’. Diese Verschwommenheit möchte ich mir zunutze machen, weswegen ich die selteneren Begriffe wie ‘Einsicht’ vermeide, die durch höhere Spezifizität auch die Antwort auf die erste Frage vorherbestimmen könnten.
Um also keine mögliche Antwort auf die erste Frage auszuschließen, versuche ich, den Begriff ‘Wissen’ in diesem Zusammenhang so weit als möglich auszulegen: Welche geistige oder kulturelle Veränderung tritt ein? Wer wird verändert? Von hier aus können Antworten gefunden werden: Ist es Wissen in einem engeren Sinne? Propositionales Wissen (“Die Verwendung von Streichinstrumenten führt zu einem emotionsbetonteren Stil in meinen Kompositionen.”)? Ist es nous, also unmittelbarer, intuitiver Erkenntnisgewinn [Vgl. Haarmann 2019, S.30]? Ist es eher eine Wirkung, die sich nicht in Worte fassen lässt – und wo lässt sich dann die Linie zu nicht-forschender Kunst ziehen? Oder ist Kunst immer forschend, und das Schlagwort ‘Künstlerische Forschung’ bezieht sich auf explizit forschende Kunst, also solche, die ihre Forschung nocheinmal reflektiert – beispielsweise in einem Begleittext?
Die Antworten, die Beispielsweise Anke Haarmann auf diese Fragen gibt, sollten eigentlich Thema dieses Textes sein, werden aber erst im nächsten Text behandelt.
Nun aber zurück zu den drei Verortungen des Wissens:
Die Unterscheidung zwischen Kunstschaffenden und Publikum wird in der Performativitätskonzeption Erika Fischer-Lichtes aufgeweicht, was dazu führt, dass die beiden ersten Optionen verwischen. Ich denke, dass das ein ambitionierteres und stärkeres Konzept der künstlerischen Forschung ist. A propos Performativität: Diese Performances ließen sich mit Judith Butler auch als Veränderung der sozialen Wirklichkeit durch den Vollzug auslegen, was eine Antwort auf die Frage nach der Art des Wissens geben könnte. Durch das Performativitätsparadigma lässt sich also eine Antwort auf die beiden zentralen Fragen formulieren – oder eher, die Fragen lassen sich umformulieren: Aus “Welche Art von Wissen entsteht?” wird “Wie wird die Wirklichkeit durch die Kunst verändert?” und aus “In wem entsteht dieses Wissen?” wird “Wer wird durch die Kunst verändert?”. Ein großes Problem an dieser Verschiebung ist, dass dadurch wieder jede Kunst, die irgendwie auf die Menschen einwirkt, die sie erfahren, als Künstlerische Forschung konzipiert wird…