Unvorhergesehenes, Performativität und Forschung
In Ihrer Monographie “Performativität. Eine Einführung”1 beschreibt Erika Fischer-Lichte Emergenz als eine der zentralen Eigenschaften von Performativität: Die durch Vollzüge erschaffene Wirklichkeit ist nicht vorhersagbar; Performativität kann sowohl stabilisierend als auch destabilisierend wirken; es können Wirkungen auftreten, die nicht aus den vorher vorhandenen Teilen voraussagbar waren.
Im Schlussabschnitt ihres Buches bezieht sie diese Eigenschaft auf wissenschaftliche Prozesse: Die Ergebnisoffenheit, die für echte wissenschaftliche Forschung notwendig ist, verlangt von den Forschenden, “sich überraschen zu lassen und auf das Emergente einzugehen”(Ebd., S. 183). Sie zeigt dies zunächst an naturwissenschaftlichen Experimenten, überträgt es aber auch auf die Kulturwissenschaften; Neue Ergebnisse könnten “bisherige Annahmen über den Haufen werfen und eine Neukonzeptualisierung erfordern”(Ebd., S. 184);
Im Forschungsprozess selbst treten immer wieder Texte, Dinge, Praktiken u.a. auf, die zu einer Revision bisheriger Annahmen führen, wenn sie Beachtung finden. Auch hier gilt, dass es mehr verspricht, eine durch sie nahegelegte Infragestellung der Ausgangshypothese oder leitenden Annahme ernst zu nehmen und eben die Texte, Dinge, Bilder, Praktiken, die den eigenen Erwartungen widersprechen, nicht aus der weiteren Forschung auszuschließen. (Ebd.)
Dies lässt sich auch auf die Künstlerische Forschung übertragen – mit einer weiteren Verschärfung: Da (in meiner Konzeption der Künstlerischen Forschung) die einzelnen Kunstschaffenden nicht nur eine zentrale Stellung in der Forschungstätigkeit einnehmen, sondern auch Teil des Erforschten sind, sind auch neue Tatsachen in ihnen und über sie ein Teil dieser Texte, Dinge, Praktiken u.a., die zur Revision bisheriger Annahmen führen können und deren Infragestellung der Ausgangshypothese ernst genommen werden sollte.
Genau so einen Umstand habe ich nun – mit meinem Gesundheitszustand lässt sich mein Promotionsprojekt, lässt sich die Künstlerische Forschung, auf die ich bisher abgezielt habe, nicht mehr verwirklichen. Ich bin als Performer Teil meines “Experimentalsystems”(Ebd., S. 183) und stehe nicht nur hinter dem Mikroskop, sondern liege auch darunter.
Fischer-Lichte leitet diese Offenheit für Emergenz aus der Performativität von Wissenschaft ab; eine für mich unerwartete weitere Verbindungslinie zwischen Performance, Performativität und Künstlerischer Forschung.
Wissenschaftliche Arbeit ist daher generell als ein performativer Prozess zu begreifen, bei dem Emergenz als wichtiges Organisationsprinzip anzuerken- nen ist. Diese Einsicht lässt Praktiken in der Wissenschaft als kontraproduktiv und daher obsolet erscheinen, die ausschließlich dem Ziel dienen, vorgefasste Annahmen und Hypothesen zu plausibilisieren bzw. zu beweisen, auch um den Preis, dass ihnen widersprechende Phänomene ausgeschlossen werden müssen. Es ist eher davon auszugehen, dass Forschung durch mehr oder we- niger signifikante Unterschiede zwischen dem ursprünglichen Forschungsplan und den erzielten Ergebnissen gekennzeichnet ist. (Ebd., S. 184)
Außerdem findet sich in ihrer Perspektive eine Nähe zu Brad Hasemans enthusiasm of practice2: Die Schwächung der Position der Forschungsfrage:
Forschungspläne sind entsprechend lediglich als Einleitung bzw. Ausgangspunkt eines performativen Prozesses zu begreifen, der eine eigene Dynamik entwickelt, die ihn der Verfügungsgewalt jedes einzelnen beteiligten Forschers entzieht. Denn performative Prozesse, als die sich Forschung vollzieht, sind nicht ohne Emergenz denkbar.
Nungut. Ich emergiere.